Vernunft und Glaube

Vernunft und Glaube
Vernunft und Glaube
 
»Wenn ich Menschen auf einem Atom, der Erde, die nur ein Punkt im Universum ist, herumkriechen sehe, wie sie sich unmittelbar als Geschöpfe der Vorsehung ausgeben, dann weiß ich nicht, wie ich solche Einbildung mit solcher Winzigkeit vereinbaren soll.« Mit diesen Worten bringt Montesquieu in seinen »Persischen Briefen« (»Lettres persanes«) den Gegensatz des Welt- und Menschenbildes der Aufklärung zur theologischen Sichtweise auf den Punkt. Und dieses Weltbild war im gebildeten Bürgertum längst zum Allgemeingut geworden. Theologische Aussagen mussten vor der menschlichen Vernunft bestehen können und waren nicht länger aufgrund ihres Alters oder einer kirchenamtlichen Autorität der kritischen Nachfrage entzogen; die Vernunft war also von Tradition und Autorität unabhängig geworden. Gott hatte doch sicher anderes, Wichtigeres zu tun, als das Leben jedes Individuums in allen Details zu regeln. Und außerdem passte eine solche Vorstellung ganz und gar nicht zur neuen, hart erkämpften Freiheit und Selbstbestimmung des neuzeitlichen Subjekts. Ihre neue Weltsicht empfanden Rationalisten bestenfalls als kritischen Glauben, zunächst aber keineswegs als atheistisch oder gar irreligiös.
 
Und doch zog der Verlust der weltanschaulichen Naivität zwangsläufig auch den Verlust der religiösen Unschuld nach sich. Als Erste fielen die biblischen Wunder der kritischen Vernunft zum Opfer. War es denn denkbar, dass sich Gott als Schöpfer und Urheber der kosmischen Ordnung, die man in ihrer Naturgesetzlichkeit mehr und mehr erkannte, nicht an die eigenen Spielregeln hielt? Und wenn die Wunderberichte nur mythische Erzählungen waren, wie stand es dann mit Auferstehung und Himmelfahrt Jesu? Und dann war da noch das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, das mit seinen 30 000 Toten das traditionelle Gottesverständnis radikal infrage stellte. Konnte der gute Gott das verursacht oder zugelassen haben? Oder verfügte er gar nicht über die Macht, es zu verhindern? Und gegenüber der Ernsthaftigkeit, mit der diese Fragen neuerdings gestellt wurden, verblassten der unbeholfene Versuch einer Antwort, der Hinweis auf Gottes unergründlichen Ratschluss, das Mysterium seines Willens oder das Jenseits, zu einem allzu billigen Ausweg, der der menschlichen Vernunft einfach unwürdig war. Mit der Aufklärung endet die christliche Prägung des Abendlandes, die Kirche gilt nun nicht mehr als Lehrmeisterin der Völker.
 
Doch auch mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften wurde Gottes Existenz nicht etwa schlagartig in Zweifel gezogen. Ganz im Gegenteil, die mathematische Präzision der Naturgesetze und die Details der Natur schienen in ihrer Harmonie derart aufeinander und auf den Menschen abgestimmt, dass sich die Existenz, ja die Notwendigkeit eines Schöpfers geradezu zwangsläufig daraus zu ergeben schien. Das Universum, so wie es sich dem Naturtheologen darbot, musste schon äußerst unwahrscheinlich sein, denn bereits eine kleine Änderung an den Rahmenbedingungen oder Gesetzen hätte genügt, menschliches Leben völlig unmöglich zu machen. Eine ganze Gruppe von Natur- oder Physikotheologen vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts leitete daraus den eutaxiologischen Gottesbeweis ab, den Beweis Gottes aus der schönen Ordnung, und übertrafen einander in immer neuen Aufzählungen, in denen Naturzusammenhänge wie Bienen und Blüten, die Architektur von Muscheln und Schneckenhäusern oder die Planetenbahnen in unserem Sonnensystem zum Beleg für die zweckmäßige Einrichtung der Welt und der Weisheit ihres Schöpfers wurden, der sich in ihnen spiegelte: Der Kosmos entsprang einem göttlichen Plan; und man musste neben der Bibel nur das »Buch der Natur« lesen, um auf seinen Urheber rückschließen zu können.
 
Vor dieser Folie scheint eine dogmatische Definition, dass Gott »mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft sicher erkannt werden« könne, durchaus nicht an den Haaren herbeigezogen zu sein. Doch obwohl die Amtskirche damit die Vernunft für sich reklamierte, ließ sie doch alle Errungenschaften beiseite, die diese in den letzten beiden Jahrhunderten gebracht hatte: Sie verpasste den Anschluss an die Idee der Menschenrechte und der Grundfreiheiten in der Französischen Revolution; sie ließ die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese außer Acht, die im Begriff waren, das Fundament des Glaubens zu verändern; sie berücksichtigte nicht das neue Geschichtsbild, das die historische Bedingtheit ihrer eigenen Gestalt und Lehrinhalte an den Tag brachte; sie vernachlässigte die Erkenntnisse der vergleichenden Religionswissenschaft und Religionsgeschichte, die sie zu einer Religion unter vielen machten, und unterließ es wegen der vermeintlichen Gefahren des Sozialismus allzu lange, sich der sozialen Frage, und das hieß der Menschen selbst, anzunehmen. Allen diesen schwerwiegenden Problemen setzte die Kirche zunächst nur eine rückwärts gewandte Romantik und das offenbarungspositivistische Argument entgegen, den hilflosen Rekurs auf ein Glaubensdepot also, dessen Wahrheiten sie allein kennt und verwaltet. Die bloße Festschreibung des Bestehenden und seine Abgrenzung von neuen Ideen muss als ängstliches Rückzugsgefecht gewertet werden.
 
Auch wenn der Glaube auf dem ersten Vatikanischen Konzil noch einmal den Sieg über die wissenschaftliche Vernünftigkeit davongetragen haben mag, in Wirklichkeit manövrierte das Dogma die Kirche wissenschaftlich und gesellschaftlich ins Abseits. Über das Bemühen, mit ihrem Glauben eine Bastion gegen die Vernunft zu errichten, übersah sie, dass sich in weiten Schichten der Bevölkerung längst die Erkenntnis durchgesetzt hatte, Vernunft und Glaube müssten keine unversöhnlichen Gegensätze mehr darstellen, und Religion hätte sich der unangenehmen, aber überfälligen Auseinandersetzung mit ihren Kritikern zu stellen. Die restriktive Kirchenpolitik jedenfalls, mit der Pius IX. 32 Jahre hindurch, und damit länger als jeder Papst zuvor, die Geschicke der Kirche im 19. Jahrhundert bestimmt hatte, sollte sich erst nach dem Ende seines Pontifikats unter seinem Nachfolger Leo XIII. - und dann auch nur vorübergehend - ändern.
 
Dr. Ulrich Rudnick

Universal-Lexikon. 2012.

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